Siehst du mich

Ich sehe Dich

Ich bin ein Morgenmuffel, durch und durch. Obwohl mir bereits die erste Tasse Kaffee Leben einhaucht, nehme ich meine Umwelt erst nach der 2.Tasse wirklich wahr. Also bleiben meinen Hunden gute 20 Minuten, vom Aufstehen bis zum ersten „Lass es!“. 20 Minuten, in denen sie all die Dinge erledigen, die sonst nicht erlaubt sind, wie z.B. die Kontrolle des Abwaschbeckens und des Geschirrspülers. Hastig werden, mit schielendem Blick auf meine halb leere Kaffeetasse, Krümel vom Kuchenteller geleckt. Solange alles leise und ruhig abläuft, laufen meine Hunde in diesen 20 Minuten nicht Gefahr
erwischt zu werden und sie haben ihre Vorgehensweise in den letzten Jahren wahrlich perfektioniert.

Fast alle zumindest.

Gestern riss mich ein lautes Klappern aus meiner morgendlichen
Agonie. Die Teile des zersprungenen Tellers lagen am Boden und
mitten drin saß unser Paulchen: Den Blick starr auf die gegenüberliegende Wand gerichtet, so als wolle er mir sagen: “Keine Ahnung, was da passiert ist!“ Fast hätte ich es ihm geglaubt, fast ……. wenn da nicht die braunen Krümel auf seinem hellen Schnäuzchen gewesen wären. Ob ich Paulchen ob seiner Dreistigkeit ausgeschimpft habe?

Nein habe ich nicht. Geboren in der Hundehölle Rumänien, als Welpe schwer an Staupe erkrankt, war Paulchens Lebensweg nicht einfach. Als er mit knapp 6 Monaten bei uns ankam, war er bereits schwer gezeichnet. Ein kleines, braunes, spindeldürres, zitterndes Etwas, das seinen Körper aufgrund der durch die Staupe verursachten Nervenschädigung nur schwer unter Kontrolle hatte. Nicht nur das Gehen fiel ihm schwer, sondern auch das
Fressen. Im Tierheim war er gemobbt worden, die anderen hatten ihn immer wieder gebissen. So dass er sich nicht mehr aus seiner Hütte getraut hatte. Nur nachts hatte er, von Hunger getrieben, versucht, ein paar Reste einzusammeln – ein paar Krümel Trockenfutter, die er mit seinen kaputten Zähnen kaum zu kauen vermochte. Paulchen war körperlich nicht in der Lage sich zu wehren und ergab sich in sein Schicksal. Der verzweifelte Versuch nicht gesehen oder bemerkt zu werden, bestimmte sein Leben.

Ein Niemand unter vielen, klein, unbemerkt und bedeutungslos.
Bei uns angekommen musste sich sein kleiner Magen erst wieder ans Futter gewöhnen. Wir fütterten ihn per Hand, da er es nicht wagte in den vollen Napf zu fassen. Ich erinnere mich noch all zu gut an unseren ersten Kontakt, an das Öffnen der Box bei seiner Ankunft: klein, braun, unscheinbar, mit Augen die einem in die Seele blicken…. und an seinen ungläubigen Blick, der zu sagen schien:

“Meinst du wirklich mich? Siehst du mich denn?”

Obwohl unsere anderen Hunde ihn nicht ein einziges Mal bedrängten, so behandelten sie ihn doch ausgesprochen unhöflich. Rempelten ihn beim
Vorbeilaufen einfach an, drängten ihn ab, sodass er das Gleichgewicht verlor. Auf drei Beinchen mit Staupetic hat man nun mal keinen besonders festen Stand. Sie behandelten ihn wie Luft, als ob er gar nicht da wäre. In all den Jahren stand ich das erste Mal vor der Überlegung einen Pflegehund aus der Gruppe zu nehmen, weil ich mir wirklich ernste Sorgen um sein Wohlergehen machte. Nicht weil man ihn mobbte, sondern weil man ihn einfach
übersah. Wir haben uns dagegen entschieden, achteten aber in besonderem Maße auf ihn. Kein Betüdeln, sondern ein achtsames „Du bist ein Teil von uns!“
Er durfte mit in den Gemüsegarten, jede Blume und jedes Kraut
beschnuppern und bewundern. Auch wenn er unzählige Male über die Beetumrandungen stolperte, so hatte er doch seine Erfolgserlebnisse. Viele davon von uns herbeigeführt, andere wieder, weil er es selbst so wollte. Langsam Schritt für Schritt wurde er nicht nur geistig wieder handlungsfähiger und entschlussfähiger, sondern auch sein kleiner Körper bekam die Zeit, die er brauchte. Je mehr er sich selbst zutraute, umso größer sein Selbstbewusstsein wurde, umso mehr wurde er
gesehen ……. die erste Spielaufforderung eines anderen Hundes folgte.
Noch heute treibt mir die Erinnerung daran die Freudentränen in die Augen. Mit uns in seiner Nähe, immer bereit ihn aufzufangen, wenn er selbst nicht mehr aufstehen konnte. Ihn selbst tun zu lassen, egal ob Fehler oder nicht, ein sicheres Umfeld zu schaffen, erst einzugreifen, wenn er selbst nicht mehr konnte.

Nur wer nach dem Stolpern wieder aufsteht, der lernt auch dazu.
Paulchen lernte, unterbrochen von ausgiebigen selbstgewählten Ruhezeiten im Schatten unseres großen Holunderbusches. Irgendwann war er dann soweit es auch den anderen mitzuteilen, „Seht her, ich bin nicht mehr willenlos.“ Er, der sonst nur fiepste teilte dem anderen mit lauten Knurren mit: “‘Mein Knochen, ich geb ihn nicht her!“ Unser Charly, seines Zeichen Schäfer-Kaukasenmix, doppelt so hoch und dreimal so schwer, meinte nur: “Gut, wenn es dir so wichtig ist, behalte ihn doch.“ Ein Meilenstein in seinem Leben und wir durften ihn miterleben. Einige mögen nun behaupten: “Ein knurrender Hund, wie unerzogen.“
Wenn es um Hundeverhalten geht, sind wir Menschen meist mit schnellen und pauschalen Urteilen bei der Hand.
Wir bedenken dabei nicht, dass es so viele Gründe für das Verhalten eines Hundes geben kann, so viele Geschichten, die dahinter stehen. Paulchen war nicht unerzogen, viel mehr war es ein Heraustreten aus seinem Schneckenhaus: „Seht her, ich bin bereit gesehen zu werden.“ Knurren ist
Kommunikation, und kommunizieren bedeutet bereit dafür zu sein, ernst genommen zu werden. Welch Durchbruch für unser kleines Paulchen.
Nebenbei bemerkt, für mich fällt Knurren noch lange nicht in die Kategorie „unerzogen“. Ein knurrender Hund kommuniziert. Er geht davon aus, dass wir ihn sehen, dass er uns seine Befindlichkeit mitteilen kann, besser noch, mitteilen darf. Knurren bedeutet auch ein Stück Vertrauen, Vertrauen, darauf, dass mich der andere ernst nimmt. Es liegt in unserer Verantwortung sich auf das angebotene Gespräch einzulassen. Die Anerkennung der anderen ist uns wichtig, das gilt nicht nur für uns Menschen, sondern auch für Hunde.
Wie wir sind Hunde soziale Lebewesen und Anerkennung ist allen wichtig!

2 lange Jahre ist Paulchen nun schon bei uns. Und obwohl seine Reise noch lange nicht zu Ende ist, geht sie doch in die richtige Richtung. Richtig, nicht weil ich als Mensch es sage, sondern weil es mir sein zufriedener Gesichtsausdruck und das Leuchten in seinen Augen immer wieder mitteilen. Er ist ein „gesehener“ Teil unserer kleinen Gruppe geworden.

Er, dessen einziger Freund die Dunkelheit seiner Hütte war, dessen einziges Lebensziel es war im „Nichtgesehenwerden zu überleben“, liebt grünes Gras, warme Sonnenstrahlen und eine streichelnde Hand. Der Gemüsegarten, als kleiner Garten Eden ist ihm geblieben. Wird ihm der Stress zu viel, so zieht er sich zurück, schläft neben den Walderdbeeren unter dem Holunderbusch und kommt doch immer wieder selbst hervor. Er teilt uns mit, wenn wir die Gartentür für ihn öffnen sollen und auch wenn manchmal ein Teller zu Bruch geht, so strebt Paulchen noch lange nicht nach der Weltherrschaft.
Individuell abgestimmt hat Paulchen einfach ein paar Freiheiten mehr, manche Kritiker mögen ihn einfach „unerzogener“ nennen. Auch wenn
„erzogene“ Hunde weniger stören, so nehme ich doch gerne das „Bisschen Störung“ in Kauf …… wofür, für ein großes Stück mehr Lebensqualität.

Zwischen der ersten und der zweiten Tasse Morgenkaffee, die Anderen schnüffeln noch nach Kuchenkrümel und Soßenresten in der Spüle, schleicht Paulchen leise unter dem Tisch zu mir. Während ich ihm heimlich ein Stück Trockenfleisch zustecke, sage ich ihm, was wir einander viel zu selten
sagen: “Ich sehe dich.“